Oakland, Stuttgart (ots) – Ab morgen leben die Deutschen auf Kredit. Zumindest, was den Ressourcenverbrauch bis zum Jahresende anbelangt. Denn auf den 5. Mai fällt für Deutschland der sogenannte Overshoot Day. „Wir stecken zusammen in einem ökologischen Schneeballsystem fest“, sagt dazu Dr. Mathis Wackernagel, Präsident des Global Footprint Network und Miterfinder des Ecological Footprint. „Der Betrug des Bankiers Madoff aus New York ist dazu vom Umfang und Ausmaß her nichts im Vergleich“. Welche Wege aus dieser ökologischen Schuldenfalle führen, darüber sprechen er und Steffen Szeidl, Vorstand des auf den Bau- und Immobiliensektor spezialisierten Planungs- und Beratungsunternehmens Drees & Sommer SE, im Interview.
Herr Wackernagel, Ihr Institut hat berechnet, dass die Deutschen ab morgen auf Pump leben. Was bedeutet das?
Mathis Wackernagel: Deutschland liegt mit seinem Pro-Kopf-Verbrauch und seinen Emissionen im obersten Viertel aller Länder. Hochgerechnet auf die Weltbevölkerung braucht jeder Deutsche vom 1. Januar bis zum 5. Mai so viel von unserem Planeten, wie die Erde im ganzen Jahr regenerieren kann. Würden die Menschen überall so leben wie in Deutschland, bräuchten wir drei Erden, um den Ressourcenverbrauch zu kompensieren. Auf Dauer kann das natürlich nicht funktionieren. Das ist ein Leben auf Kredit der künftigen Generationen.
Welche Ressourcen sind denn besonders übernutzt?
Wackernagel: Das Problem ist nicht eine einzelne Ressource, sondern die Summe unseres ganzen Verbrauchs – die Menschheit braucht mehr, als die Erde erneuern kann. Das nennt sich auf Englisch ‚Overshoot‘. Wir wollen zu viel Fisch, zu viele Hühner, zu viel Papier, zu viel Fossilenergie, zu viel Baumwolle etc. Das ist der Grund, warum all diese Umweltkrisen gleichzeitig auftreten. Diese Synchronizität ist kein Zufall. Das große Problem ist, dass die Menschen kaum etwas von Overshoot gehört haben, dass die meisten Sprachen, wie eben auch Deutsch, nicht einmal ein Wort dafür haben. Das ist, als hätte der Arzt keinen Namen für eine Krankheit und könnte diese deswegen auch nicht therapieren.
Die Folgen des Klimawandels dürften ja spätestens seit Fridays for Future fast jedem bekannt sein. Nur scheinen die Lösungen dafür nur sehr zäh und zögerlich voranzukommen.
Wackernagel: Das mag sein, aber das größte Problem ist unser Missverständnis der Situation. Viele denken: Es kostet mich nur, mein CO2 zu reduzieren, daher warte ich mal. In Wirklichkeit steuern wir in einen Sturm von Ressourcenknappheit und Klimawandel. Warum warte ich, um mein Boot für den vorhersehbaren Sturm bereit zu machen? Kein Land, keine Stadt, kein Unternehmen kann seine Infrastruktur nullkommaplötzlich umfunktionieren, umrüsten oder anpassen. Diejenigen, die vorausschauend planen, haben eindeutig eine viel bessere Zukunftschance. Mitzuhelfen, den Earth Overshoot Day zu verschieben, liegt im direkten Eigeninteresse.
Können Sie konkrete Beispiele nennen, wie wir reagieren könnten?
Wackernagel: Eine 50-prozentige Reduktion der CO2-Emissionen der fossilen Brennstoffe weltweit verschiebt den Overshoot Day um ganze 93 Tage. Als Beispiel dazu: Die Stadt Wuppertal hat eine stark befahrene städtische Radwegstrecke gebaut, die jährlich von 2-3 Millionen benutzt wird. Es ist eine ehemalige Bahntrasse, die dank einer Bürgerbewegung zur Fahrradautobahn geworden ist. Oder nehmen wir das Rathaus in Freiburg, das im Jahr 2017 als erstes öffentliches Netto-Plusenergiegebäude der Welt fertiggestellt worden ist. Zahlreiche weitere Projekte gibt es unter dem Hashtag ‚MoveTheDate‘. Viel ist möglich, und auch essenziell, wenn wir weiter gut leben wollen.
Wo liegt denn dabei die Verantwortung des Einzelnen?
Wackernagel: Wer ist schuld? Wir stecken zusammen in einem ökologischen Schneeballsystem fest. Wir benutzen die Ressourcen der Zukunft, um für die Gegenwart zu bezahlen. Und das sage ich nicht leichtfertig, denn es handelt sich nicht um eine Analogie. Es ist ein tatsächliches Schneeballsystem. Madoff, der berüchtigte Bankier aus New York, ist vor Kurzem im Gefängnis gestorben. Aber sein Betrug ist vom Umfang und Ausmaß her nichts im Vergleich zu unserem aktuellen ökologischen Schneeballsystem. Wer ist also schuld? Wer ist der ökologische Madoff? Diejenigen, die sich weigern, das Schneeballsystem zu erkennen? Diejenigen, die keine ehrliche Buchhaltung führen wollen? Diejenigen, die bei ökologischen Schneeballsystemen ein Auge zudrücken, während finanzielle Schneeballsysteme in den meisten Ländern illegal sind? Vielleicht ist es besser, die Frage anders zu stellen: Was bringt es, abzuwarten und mal zu weiterzusehen? Was tun Sie, um sich selbst, Ihre Stadt, Ihr Land, Ihr Unternehmen zu schützen? Daher setzen wir auf Menschen und Institutionen, die sich dem Problem annehmen.
Herr Szeidl, die Bau- und Immobilienbranche gehört zu den größten Ressourcenverbrauchern weltweit. Was bedeutet es für Sie, nachhaltig zu wirtschaften?
Steffen Szeidl: Ganz klar einen Wettbewerbsvorteil. Ich bin überzeugt, dass mittel- bis langfristig nur diejenigen Unternehmen bestehen, die nachhaltig agieren, weil es keine Alternative dazu gibt und weil es sich – bei ehrlicher und vollständiger Bilanzierung aller Risiken – auch rechnet. Dazu ein kleines und einfaches Beispiel: Statt auf Mehrwegplastikflaschen setzen wir bei uns auf Zapfanlagen für das Trinkwasser. Allein für den Standort Stuttgart hat das 35.000 Euro gekostet, was sich aber bereits nach 18 Monaten amortisiert hat. Nebenbei haben wir so sogar ein qualitativ höherwertiges Trinkwasser. Viele Unternehmen befürchten enorme Kosten bei Umwelt- und Klimaschutz. Doch gerade dann müssen Unternehmen in die Zukunft investieren. Nachhaltige Maßnahmen führen in Summe immer zu besseren Produkten und Dienstleistungen, mal abgesehen davon, dass es die angeschlagene Reputation so mancher Unternehmen verbessert und qualifizierte Mitarbeiter anzieht. Das bedingt eine neue Renditebetrachtung: statt dem schnellen lieber einen langfristigen Euro.
Von der Mikro- zur Makrosicht – wie sieht denn die CO2-Bilanz der Bau- und Immobilienbranche aus?
Szeidl: Der Anteil des Sektors am weltweiten CO2-Footprint liegt bei 38 Prozent, sie ist für 50 Prozent des europäischen Müllaufkommens verantwortlich, in Deutschland verbaut sie 90 Prozent der geförderten mineralischen Rohstoffe. Hier gibt es also für ein Umsteuern großes Potenzial. Zudem haben wir uns die letzten Jahre sehr stark in die Ecke Energieeffizienz verrannt, anstatt größer zu denken. Das Stichwort Kreislaufwirtschaft ist nicht grundlos ein wichtiger Bestandteil des Green Deals der EU. Die Transformation von der linearen hin zur kreislauffähigen Wirtschaft wurde damit als entscheidender Faktor in Sachen Klimaschutz und Ressourcenschonung definiert. Kurzum: Für unsere Branche führt in Zukunft kein Weg an der Kreislaufwirtschaft vorbei.
Weg vom Ressourcengrab hin zum Rohstoffdepot?
Szeidl: Richtig. Kreislauffähige Gebäude geben die verbauten Rohstoffe am Ende ihrer Nutzungszeit wieder für neue Bauprojekte und Produkte frei. Nichts landet auf dem Müll, sondern wird sortenrein getrennt, recycelt und wieder in die Kreisläufe rückgeführt. Angewendet auf ganze Städte lassen sich auf diese Weise enorme Potenziale heben. Und das ist keine Zukunftsmusik: Gebäude wie das Wohnhochhaus Moringa in Hamburg oder das Bürogebäude The Cradle in Düsseldorf setzen bereits heute auf kreislauffähiges Bauen und dienen als Blaupause für weitere Projekte. Verknüpft mit digitalen Tools und Datenbanken entsteht so ein digitaler Materialpass für Gebäude. Darin sind alle Informationen zu den verbauten Produkten und Materialien enthalten. Auf diese Weise kann bei Umbau oder Abriss genau geplant werden, wie sich wertvolle Ressourcen erneut einsetzen lassen oder in den Kreislauf zurückgeführt werden.
Steigen damit nicht auch die Baupreise?
Szeidl: Augenscheinlich ja – von vielen werden dafür gerade die aktuellen Steigerungen beispielsweise beim Holz aufgeführt. Dies ist jedoch nur in kleinen Teilen auf eine erhöhte Nachfrage aufgrund von Nachhaltigkeit zurückzuführen. Und es wird zumindest klar, welche Anstrengungen von allen Akteuren zu tätigen sind. Rohstoffgewinnung, Verfügbarkeit, Demontage, Rücknahmesysteme, Logistik und viel mehr müssen neu gedacht werden. Auf lange Sicht betrachtet, rentiert sich die Investition in die Kreislauffähigkeit. Wenn Gebäude am Ende ihrer Nutzungszeit nicht auf dem Müll landen, sondern als Materialbank dienen, profitieren Eigentümer von künftigen Rohstoffpreisentwicklungen – ohne in deren Lagerung investieren zu müssen. Bei heutigen Materialkosten von über 20 Prozent der Baukosten ergibt sich hierdurch eine Wertsteigerung von bis zu 20 Prozent. Darüber hinaus lassen sich die Instandsetzungs-, Rückbau- und Entsorgungskosten auf ein Minimum reduzieren.
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