Hamburg (ots) –
Die Erkenntnisse über eine einst in der Sowjetunion entwickelte
Klasse von Kampfstoffen namens „Nowitschok“ geht maßgeblich auf eine
bis heute geheim gehaltene Operation des Bundesnachrichtendienstes
(BND) zurück. Nach gemeinsamen Recherchen der Wochenzeitung DIE ZEIT
mit dem Rechercheverbund von Süddeutsche Zeitung, NDR und WDR,
beschaffte ein Informant des Dienstes in den neunziger Jahren eine
Probe des Stoffes. Auch die Bundeswehr war in den Vorgang
eingeschaltet. Damals an der Entscheidung beteiligte Personen
bestätigen den Vorgang, die Bundesregierung und der BND erklärten auf
Anfrage zu „nachrichtendienstlichen Angelegenheiten grundsätzlich nur
den geheim tagenden Gremien des Deutschen Bundestages“ Auskunft zu
geben. „Nowitschok“ gilt als eine der tödlichsten je entwickelten
C-Waffen, ihr Einsatz gegen den russischen Überläufer Sergej Skripal
und seine Tochter im März diesen Jahres in Salisbury führte zu einer
diplomatischen Krise zwischen Moskau und dem Westen.
Die damalige Operation, die nach Angaben von Beteiligten in der
ersten Hälfte der neunziger Jahre begann, war innerhalb der
Bundesregierung umstritten. Der BND führte bereits seit einiger Zeit
einen russischen Wissenschaftler als Quelle, der angeboten hatte, das
bis dahin sorgsam gehütete militärische Geheimnis einer neuen Klasse
von chemischen Kampfstoffen gegen die Zusicherung eines sicheren
Aufenthaltsstatus für sich und seine Familie zu verraten. Der spätere
Überläufer bot sogar an, eine Probe nach Deutschland zu bringen. All
dies führte zu komplizierten politischen und juristischen
Diskussionen innerhalb der Bundesregierung. 1990 waren auf Druck von
Bundeskanzler Helmut Kohl die in Westdeutschland gelagerten
amerikanischen Chemiewaffen abtransportiert worden, die
Vereinbarungen über eine weltweite Ächtung der Kampfgase waren weit
vorangeschritten. Zudem hatte sich Deutschland bereits 1954 in den
sogenannten Pariser Verträgen verpflichtet, keine
Massenvernichtungswaffen herzustellen. „Wir wollten auf keinen Fall
den Eindruck erwecken, als würden wir uns selbst für solche
Chemiewaffen interessieren“, sagt eine mit den damaligen Diskussionen
vertraute Person.
Mit Wissen von Kanzleramt und Bundesverteidigungsministerium wurde
die Probe deshalb in einem Labor in Schweden analysiert, nur die
Formel wurde an den BND und das Verteidigungsministerium übermittelt.
Was aus der Probe wurde, ist unklar, die schwedische Regierung
erklärte auf Anfrage, sie könne den Vorgang in der Kürze der Zeit
nicht aufklären. Auf Weisung von Kohl unterrichtete der BND einige
seiner engsten Partner, darunter amerikanische und britische
Geheimdienste. Später wurde eine Arbeitsgruppe aus sechs westlichen
Geheimdiensten und dem BND eingesetzt, sie trug alle Erkenntnisse zu
„Nowitschok“ zusammen. In einigen NATO-Ländern soll es auch zu der
Produktion von winzigen Mengen des Giftes gekommen sein, um eigene
Schutzausrüstung, Messgeräte und mögliche Gegenmittel zu testen. Um
das gute Verhältnis zum damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin
nicht zu belasten, entschied sich die Bundesregierung, die Existenz
von „Nowitschok“ nicht öffentlich zu machen. Der letzte sowjetische
Staatschef Michail Gorbatschow hatte schon 1987 versichert, dass die
Produktion von C-Waffen eingestellt werde.
In der Bundesregierung war man unsicher, ob der militärische
Apparat ohne Wissen der politischen Führung weiter an der Entwicklung
von Massenvernichtungswaffen arbeitete. Im Auftrag Kohls sprach ein
Emissär den Vorgang allerdings bei einem Treffen in Moskau an und
erklärte, man wisse von den heimlich fortgesetzten
Kampfstoff-Entwicklungen. Der Überläufer kam später auf Umwegen nach
Deutschland und lebte zumindest zeitweilig unter dem Schutz der
Bundeswehr. In der heutigen Bundesregierung laufen inzwischen
Bemühungen, den damals unter höchster Geheimhaltung gelaufenen
Vorgang zu rekonstruieren.
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